MIGRATION ALS CHANCE
MIGRATION ALS CHANCE

LESEPROBE

 

MIGRATION ALS CHANCE - VORWORT

Meine Familie hat seit 500 Jahren Migrationserfahrung und befindet sich in ständiger Bewegung, um sich vor gefährlichen Situationen zu schützen und zu überleben. Kriege und Massaker aufgrund von religiöser Verfolgung, politische Diskriminierung oder die im 15. Jahrhundert stattgefundene Tötung von 40.000 Alewiten, weil sie Alewiten waren, lieferten Gründe zur Migration.

In dieser Zeit ist meine Urgroßfamilie aus der Region Dersim mit dörflicher Struktur in die Kreisstadt Kigi ausgewandert. Von dort wurde weiter in andere Regionen gezogen, weil sie auch dort Unterdrückung erfahren haben. Die nächste Station  der Migration war Varto, von dort nach Hinis, von Hinis nach Karlova. Dort konnte sie für einige hundert Jahre leben. Weiter ging die Reise meiner Familie nach Kars an die armenische Grenze. Die Alewiten wurden dann auch dort im 19. Jahrhundert von den paramilitärischen Einheiten (Hamidiye Alayalari), genau wie die Christen verfolgt, mit dem Ziel die islamische Religion zu verbreiten. Von Kars wanderte man dann erneut zurück nach Karlova. In den 60er Jahren gingen die jungen Leute in die Stadt, um dort Schulen und Universitäten zu besuchen.

Mein persönliches Leben entwickelte sich unter dem Migrations-Schicksal meiner Familie. Ich habe als Arzt in Regionen gearbeitet, in denen damals viele Kurden lebten, die nicht türkisch sprachen. Deshalb habe ich mit den kurdischen Patienten in ihrer Heimatsprache kommuniziert. Doch schon diese Notwendigkeit wurde vom türkischen Staatsapparat als  Separatismus eingestuft. Gleichzeitig wurde mir das Recht auf eine fachärztliche Ausbildung abgesprochen. Ich wurde verfolgt, auf der Straße zusammengeschlagen und in meinem Zuhause abgehört. Meine berufliche und persönliche Weiterentwicklung war aufgrund meiner mangelnden Sicherheit  nicht möglich und ich habe entschieden, wie in meiner Familie üblich, den Schritt zur Migration zu tun und bin nach Deutschland ausgewandert.

Das zeigt, wie Migration für mich und meine Familie wieder einmal lebensrettend war. In Deutschland habe ich dann zuerst Gesundheitswissenschaft in Bielefeld bei Prof. Lasser und Prof. Hurrelmann studiert. Während des Studiums habe ich mich mit dem Thema Migration und Gesundheit beschäftigt. Speziell ging es um die Zusammenhänge von Lebensstil und Gesundheit,  Krankheit bei Migranten. Meine persönlichen Erfahrungen haben mich dazu gebracht, zu erkennen, wie wichtig es ist, die gesundheitlichen Aspekte dieses Themas wissenschaftlich anzusehen. Auch meine Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat mir gezeigt, welche medizinischen Aspekte die Migration auf den gesundheitlichen Zustand der Patienten hat. Mein privates und berufliches Leben dreht sich somit um das Thema Migration.

Ich habe erlebt, dass Migration lebensrettend ist und durchaus eine Erweiterung der Lebensmöglichkeiten bietet, dass sie aber auch Verlust bedeuten und schmerzliche, ja im schlimmsten Fall, auch krankmachende Veränderung mit sich bringen kann. Migration hat folglich zwei Seiten. Zum einen ist sie eine möglicherweise lebensrettende Maßnahme, die aber auch durch die damit verbundenen Umstände krank machen kann.

In Deutschland wurde ich nun durch meine Migration nicht mehr bedroht, ich konnte meine Sprachen sprechen, ohne zusammengeschlagen zu werden, konnte Patienten in ihrer Muttersprache behandeln, sodass ich  fachliche Hilfe leisten konnte. Auch die Möglichkeit der Weiterbildung wurde mir gegeben.

Migration bedeutet für mich zuerst aber auch „ ein Fisch auf dem Trockenen“ zu sein. Meine Lebenswelt war plötzlich eine andere; lebensnotwenige Gewohnheiten fehlten mir. Plötzlich keine Sprache mehr zu haben, war ein lähmendes Gefühl. Das was früher funktionierte, hatte plötzlich keinen Wert mehr. Meine in der Türkei als Kurde schwer erworbene Approbation als Arzt musste hier erst wieder neu erkämpft werden. Wie ich meinen Lebensunterhalt zukünftig bestreiten sollte, war ebenfalls  unklar. Ich habe niemanden vorgefunden, der mir Beratung und Akzeptanz angeboten hätte.

Das gab mir ein Gefühl der Desorientierung. Mehr noch gab mir diese Situation das Gefühl, ein Nichtschwimmer im tiefen Ozean zu sein. Ich hatte die Wahl, von jetzt auf gleich schwimmen  zu lernen oder unterzugehen. Ich musste mir einen Platz in dieser Gesellschaft erkämpfen. Dazu habe ich gelernt, zeitgleich eine neue Sprache zu sprechen, ein Studium zu absolvieren und die gesellschaftlichen Bedingungen in meiner neuen Heimat zu akzeptieren. Ich musste lernen, in dieser zwar für mich einerseits lebensrettenden Gesellschaft zurechtzukommen, andererseits in einem Wertesystem zu leben, welches mich erst einmal in meinem Wert degradierte. Eine Gesellschaft die unbarmherzig mit Menschen umgeht, die die  Sprache zunächst einmal unvollkommen sprechen. Viele Migranten mit guter Bildung müssen im Einwandererland in Beschäftigungen arbeiten, die nicht den Stellenwert ihrer ursprünglichen Berufe haben. Ärzte arbeiten als Taxifahrer, Lehrer als Reinigungskräfte, Juristen als Hilfsarbeiter, Wirtschaftswissenschaftlerinnen als Zimmermädchen im Hotel. Was der Mensch hatte und was funktionierte,  funktioniert auf einmal nicht mehr. Verluste und zeitgleich unklare Zukunftsperspektiven führen bei den Betroffenen zur Desorientierung. In dieser Situation besteht eine hochgradige  Gefahr, psychische Störungen zu entwickeln. Hierbei wäre eine Intervention in Form einer Beratung erforderlich. Betroffene sollten erkennen können, welche Perspektiven unter welchen Vorgaben sich für sie ergeben. Bis jetzt fehlt jegliche Form dieser zwingend notwendigen Beratung in Deutschland, sodass immer noch Migranten einwandern und sich in der gleichen Situation befinden, wie ich vor 30 Jahren. 

Medizinisch betrachtet müssen die Hintergründe der Migration in psychiatrische und psychotherapeutische Hilfeprozesse mit in die Diagnosestellung eingeschlossen werden.

Als Arzt und Gutachter habe ich festgestellt, dass die Hintergründe von psychischen Erkrankungen in Bezug auf die Migration nicht oder unzureichend Berücksichtigung finden. Das Gesundheitssystem in Deutschland berücksichtigt oft nicht, dass die Ursache vieler Erkrankungen auf Erfahrungen durch Migration beruht. Ich frage mich, wie meine Kollegen lernen können, die Einflüsse von Migration zu verstehen, wenn diese nicht Thema in der Hochschulausbildung sind. 25 % der Bevölkerung sind Migranten oder hat Migrationshintergrund. Das bedeutet, ein Viertel der Bevölkerung lebt mit einem Gesundheitsrisiko, ohne dass es hierzu entsprechende Weiterbildung oder Ausbildung gibt. Es besteht ein enormes Defizit an  Erkenntnisprozessen der Erkrankungen bei Migranten. Dies trifft nicht nur auf die psychischen Erkrankungen zu, sondern es betrifft auch die somatischen Erkrankungen.

Die nicht stattfindende Akzeptanz und Berücksichtigung von Ernährungsgewohnheiten der Migranten im deutschen Gesundheitssystem führt dazu, dass zum Beispiel bei Herzerkrankungen oder Diabetes kaum eine fachlich hilfreiche Beratung stattfinden kann.

Mein Ziel ist es, mit meinem Buch das vorhandene Defizit der Berücksichtigung kultureller Hintergründe im deutschen Gesundheitssystem darzustellen.

Das heißt, es gibt für Migranten krankmachende Lebensbedingungen (mangelnde Sprachkenntnisse, Rechtsstatus, Diskriminierung, schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen, kulturelle Verluste des Wertesystems etc.) und dazu eine unzureichende Behandlung der daraus entstandenen und anderer Erkrankungen. Die mangelnde Berücksichtigung der kulturellen Zusammenhänge erschwert die Behandlung zahlreicher Erkrankungen und kann zur Chronifizierung der Störungen führen. Daraus ergibt sich, dass Deutschland nicht nur Autos und Maschinen produziert, sondern auch Krankheiten. Das habe ich als Arzt und Gesundheitswissenschaftler festgestellt und möchte mit meinem Buch nun einen  Beitrag zur Verbesserung der Diagnosen und Behandlungen von Migranten leisten. 

Aber dieses Buch ist nicht nur ein Beitrag zur positiven Veränderung des deutschen Gesundheitssystems, es ist auch eine wertschätzende Erinnerung an meinen Großvater Halit, dem ich vieles, was mir als Arzt und Therapeut heute hilft, zu verdanken habe.

Als Kind habe ich für ihn die Schafe auf den Bergen Bingöls (Quelle des Euphrats) gehütet. Eine Fähigkeit,  die in der deutschen Wirklichkeit  wenig Achtung hervorruft, die mir aber geholfen hat, Achtsamkeit zu entwickeln und heute hilft, psychisch kranke Patienten zu verstehen und zu behandeln. Das Aufwachsen in der traumhaften Landschaft dort hat mir geholfen, meine eigene Psyche so zu stärken , dass die Schmerzen der Migration mich nicht zerbrochen haben, sondern die Gelassenheit und Menschenliebe zu erlangen, die ich brauche, um meine Arbeit mit den verletzten Menschenseelen erfolgreich und liebevoll zu bewältigen. Die Männerabende bei meinem Großvater in der Stube waren eine Art Vorstufe von Gruppentherapie und Selbsterfahrung, deren Zeuge ich schon als kleiner Junge war. Hier war es mir nicht erlaubt, mich am Gespräch zu beteiligen – aber ich lernte aufmerksam zuzuhören, und entwickelte Neugier auf Menschen und das menschliche Verhalten, was wiederum für meine spätere Berufswahl sehr nützlich war.

Diyar und Evin Lorin, meine Kinder, sollen erfahren, wie ihr Vater seine ersten Lebensjahrzehnte verbracht hat, damit sie auch ihre eigenen Wurzeln erkennen. Für sie habe ich dieses Buch auch geschrieben und für alle Kindern von Zuwanderern, denen vielleicht die Welt ihrer Eltern zum Teil fremd ist. Für Kinder ist es wichtig, ihre Geschichte zu kennen, denn nur wenn man weiß, woher man kommt, kann man bestimmen, wohin man möchte.

Und ich habe dieses Buch auch für meine deutschen Mitmenschen geschrieben, für die ich, so habe ich manchmal das Gefühl, immer noch ein Fremder bin - sie wissen so vieles nicht - zum Teil, weil es sie nicht interessiert hat, zum Teil aber auch, weil es nicht gesagt oder geschrieben  worden ist. Dem möchte ich Abhilfe schaffen.

Migration kann ein großer Reichtum für die Aufnahmegesellschaft sein, wenn sie Augen für die Vielfalt und die bisher nicht erkannten Schätze der Einwanderer hat. Andere Ansichten zur Familie und alternative Denkweisen im Umgang miteinander, zur Nachbarschaft etc. können eine große Bereicherung der Industrienationen sein. Gleichzeitig müssen die enormen Kraftressourcen gesehen werden, die Einwanderer in die Gesellschaft einbringen.